Meditation zum Tasten
Lege deine Fingerspitzen an die von tiefen Furchen umzogene Borke des alten Baumes, streiche mit ihnen über die silbrig-grauen und braunen, glatten Flächen und feinen Vertiefungen aus runden, ineinanderüberfließenden Ebenen und geschwungenen Mustern, die wie Puzzleteile zusammenliegen. An manchen Stellen gibt die Borke ein wenig nach. Sie ist glatt, wenn auch nicht so wie Kunststoff. Sie ist hart und doch kann der Fingernagel eine kleine Kerbe in sie kratzen. An der Wetterseite des Baumes ist eine dünne Schicht aus grünem, flaumigem Moos.
‹Sei› ganz deine Fingerspitzen und erfahre in ihnen die Oberfläche als eigene Welt.
Ich taste. Mit dem Vorhandensein dieses Sinnes geht die Pflanze in die Welt der Tiere über. Blumentiere, wie die Anemonen, sind ebenso lebendige Wesen wie wir, mit dem Unterschied, dass sie nur einen Sinn haben, den Tastsinn, und weder schmecken, riechen, hören noch sehen können.
Das sinnliche Erleben des im Mutterleib entstehenden Menschen beginnt mit der Haut, unter deren Oberfläche Tastsensoren liegen. An den Fingerspitzen so dicht, dass ich bis zu einem halben Millimeter große, räumliche Details wahrnehmen kann. Über feine Druckunterschiede nebeneinanderliegender Abtastpunkte erkenne ich die Oberflächenbeschaffenheit eines Objekts oder Wesens, ertaste ich spitz und scharf, rauh und strukturiert, genoppt, geriffelt, Samtiges und Pelziges. An der Nachgiebigkeit einer Berührungsfläche erkenne ich Härte, Weichheit und Elastizität. Durch die gleichzeitigen Eindrücke meiner verschiedenen Finger erkenne ich die Form eines Gegenstandes mit geschlossenen Augen.
Meine gesamte Körperoberfläche ist mit Tastsensoren überzogen, im Mundinnenraum und an den Fingerspitzen mit besonders hoher Dichte. Ich taste und registriere damit die Oberflächenbeschaffenheit und Kontur von Dingen und Wesen mit der Haut.
Wenn sich eine Hand an meinen Rücken legt und mich nach vorn schiebt, leitet die Haut an diesen Stellen Dehnungsreize weiter. So erkenne ich Druck: die Beschleunigung im startenden Flugzeug, den Widerstand eines Lichtschalters beim Betätigen und den Wind an der Bushaltestelle. Wind ist auch kühlend. Ich registriere seine Kühle ebenso mit der Haut. Neben Oberflächenbeschaffenheit und Kontur nehme ich über die Haut auch auf mich wirkende Drücke sowie die Temperaturen des mich umgebenden Mediums und der Dinge und Wesen, die ich berühre, wahr. Auch dieses ist eine Form des Tastens. Heiße und warme Materie, wie ein brennendes Feuer oder die Sonne, senden Wärmestrahlen aus. Sie gelangen zu mir, ohne erst die zwischen mir und dem Feuer befindlichen Materieteilchen zu erwärmen. Mit der Haut registriere ich die Wärmestrahlung.
Kein physisches Tasten ist zum Beispiel das ‹Herantasten› an ein heikles Thema in einem Gespräch.
Ich taste. Meine Haut nimmt in der Berührung die Oberflächenbeschaffenheit, Kontur und Temperatur von Dingen und Wesen wahr. Meine Haut nimmt auf mich einwirkende Drücke und Temperaturen wahr.
Zum Weiterforschen
Halte die Fingerspitzen dicht über die frisch gegossene Erde eines Blumentopfes, ohne diese zu berühren. Ist Feuchtigkeit tastbar? Oder nimmst du die Feuchtigkeit allein an der Kühle der feuchten Erde wahr?
Wie beim Sehen, Hören, Riechen und Schmecken, senden auch beim Tasten Sinneszellen elektrische Impulse an das Gehirn. Ein kompletter Ausfall des Tastsystems kommt von Natur aus nicht vor; Tasten scheint für den Körper lebensnotwendig zu sein.¹
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¹ Sanfte Ganzkörpermassagen verringern bei Frühgeborenen die Ausschüttung von Stresshormonen. Sie schlafen ruhiger und nehmen schneller zu.
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